Intro Kythera by James Prineas Stories from "A Village on Kythera"

"Welch blühende Phantasie diese griechischen Dichter besessen
haben müssen, daß sie diesem öden, windgepeitschten, baumlosen
und verlassenen Eiland unsterblichen Ruhm verliehen haben."
Viscount Kirckwall, 1864

Vorwort

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Falls Sie noch nie von der griechischen Insel Kithera gehört haben sollten, machen Sie sich nichts daraus - auch die meisten Griechen haben keine Ahnung, wo Kithera liegt. Und sofern besagte Griechen bereits von der Insel gehört haben, wissen sie in aller Regel nichts Nettes darüber zu berichten, was mir wiederum nur recht sein kann, da ich durchaus dafür bin, die Sache ein bißchen geheimzuhalten. Denn Kithera ist eine der letzten griechischen Inseln, die zum Glück noch nicht vom Tourismus verdorben wurde, der also jene schlimmen Betonbausünden der vergangenen dreißig Jahre erspart blieben, in deren Folge das Gros der anderen Inseln in Betondiscos verschandelt wurde, wo rund um die Uhr der Bär tanzt.
Auf Kithera herrschte allerdings nicht immer so idyllische Ruhe wie heute - noch um die Jahrhundertwende, als mein Großvater Dimitri dort aufwuchs, gab es sechzig geschäftige Dörfer und zahllose Großfamilien auf der Insel, die für eine Gesamtbevölkerung von rund vierzehntausend Leuten sorgten. Damals wurde noch an jedem Wochenende in dem einen oder anderen der verstreuten Dörfer zum Tanz aufgespielt, und im Winter brachen ganze Familien bei Sonnenaufgang zu ihren - manchmal mehrere Stunden weit vom Dorf entfernten - Olivenhainen auf, um dort Oliven zu ernten, bis die Kühle des Sonnenuntergangs sie nach Hause zog. Das ganze Jahr über bahnten sich Bäche den Weg zum Meer, die von scheinbar ewig sprudelnden Quellen gespeist wurden. Die Bäche bewässerten die wenigen fruchtbaren Täler, auf deren terrassiertem Boden Obst- und Gemüsegärten angelegt waren, die trotz aller sorgfältigen Pflege nur mit Mühe und Not eine äußerst arme Einwohnerschaft ernährten. Damals wurden Weizen und Roggen noch mit der Sichel geerntet, auf dem Rücken von Eseln transportiert und von Hand gedroschen, bevor dann das mühsam verdiente Korn in Wind- und Wassermühlen vermahlen wurde, um zuletzt in den Brotöfen der Dorfbewohner zu landen. Von der Sonne ausgebleichte Schotterwege durchzogen im Zickzack das Eiland wie Kratzer auf einem Stein. Auf diesen Wegen gelangte man vom Haus aufs Feld, vom Dorf auf den Markt, von der Stadt zum Hafen, von wo aus der berühmte Honig und das nicht minder berühmte Olivenöl aus Kithera zusammen mit Wein und Feigen nach Piräus verschifft wurden.
picture description Im Jahre 1985, gut fünfundsiebzig Jahre, nachdem mein Großvater der Insel den Rücken gekehrt und nach Australien ausgewandert war, reiste ich nach Kithera, um dort festzustellen, daß seine Generation so gut wie ausgestorben und der Großteil der nachfolgenden Generationen abgewandert waren. Was mir am Dorfleben in Kithera so sehr gefiel - die simplen Abläufe des Alltags, der eng verflochtene Zusammenhang von allem und jedem, die Wertlosigkeit der Landeswährung, dazu das hartnäckige Beharren auf einer Lebensweise, der ihre althergebrachten Eßgewohnheiten lieb und teuer waren - hatte die jungen Generationen der Inselbewohner außer Landes getrieben, auf daß sie sich in den Vororten Sydneys oder aber in der Wildnis der Großstädte Queenslands neue Existenzen gründeten, die man zur Hälfte im eigenen Gemüseladen und zur anderen Hälfte vor dem Fernseher zubrachte. Warum irgendein Mensch Lust haben sollte, das frische Quellwasser der Insel gegen das einzutauschen, was in Brisbane aus dem Hahn sprudelt, oder eine Herde gemächlich dahinstreifender Ziegen gegen ein betagtes Automobil der Marke Holden zu tauschen, bleibt mir bis heute ein Rätsel. Doch ausgewandert sind sie alle, die jungen Leute, und ließen ihre Großmütter zurück, die dann eben für ihre zahnlosen Ehemänner die Lämmer des Dorfes braten mußten. Auf den Feldern, wo sich über Jahrtausende hinweg die Weizenähren sacht im Wind gewiegt hatten, ließe sich heute bestenfalls eine reiche Ernte an Unkraut und Felsbrocken einfahren.
picture description Die Geschichte Kitheras ist nicht weniger alt als die der übrigen vernachlässigten Eilande des Mittelmeers - leider war sie nie bedeutsam genug, als daß man sie aufgeschrieben hätte. In der Antike verdankte die Insel ihren bescheidenen Ruhm der Liebesgöttin, die mutmaßlich in den Schaumkronen vor ihren Gestaden zur Welt kam, außerdem einer bestimmten Schneckenart, die, sobald man sie lebendigen Leibes in kochendes Wasser warf, leuchtend purpurrot färbte, was die Majestäten dieser längst vergangenen Zeiten ungemein zu schätzen wußten. Und obwohl Kithera einen günstigen Punkt abgegeben hätte, um den strategisch wichtigen Seeweg vom griechischen Festland nach Kreta sowie die an der Küste gelegenen Handelsrouten von Kleinasien in den westlichen Mittelmeerraum zu kontrollieren, ließen die Marinestrategen die Insel wegen der schlechten Häfen stets links liegen, machten auch die Seeräuber immer nur so lange Station, bis sie etliche Einwohner einkassiert hatten, die sie dann als Haussklaven nach Afrika verkauften - die Rache für die zweifelhafte Qualität des Weins, der den Piraten aus Kithera geliefert wurde, wie böse Zungen behaupten.
In jüngerer Zeit wurde die Abwanderung der Bevölkerung nicht gar so brachial erzwungen, trotzdem sind ihre Folgen ähnlich verheerend. Die sepiabraunen Portraitaufnahmen junger Kitheraner aus der Zeit vor der Jahrhundertwende, die sich noch heute an den Wänden der Wohnzimmer der Inselbewohner finden, wurden von Fotografen in Argentinien oder Chile aufgenommen. Die nächste Auswanderungswelle in unserem Jahrhundert, die nach Australien ging, beraubte Dutzende von Dörfern ihrer Jugend, wieder andere Weiler und Dörfer wurden schlicht aufgegeben, sind heute gänzlich verwaist. Und die wenigen Jugendlichen, die heutzutage auf der Insel wohnen bleiben, verdienen sich eher als Mopedverleiher ihr Geld, als daß man sie auch nur in der Nähe eines Esels sähe. In viele der Weinfässer Kitheras, in denen einst der süffige Inselwein reifte, wird heute Traubensaft gekippt, den man aus Kreta importiert; hausgebackenes Paximathia - das knusprige Brot der Gegend mit viel Olivenöl im Teig, das traditionellerweise im holzgeschürten Ofen gebacken wird - ist heutzutage eine selten gewordene Delikatesse. Schon zum Ende unseres Jahrhunderts, soviel steht fest, wird ein Großteil der Inseltraditionen, die im Verlauf von Jahrhunderten entwickelt, praktiziert und verfeinert wurden, nur noch Geschichte sein.
picture description Der Niedergang Kitheras sorgt nirgends für Schlagzeilen; trotzdem liegt eine gewisse Tragik im Untergang einer Lebensweise, die so ehrlich und karg gewesen ist, selbst wenn auch ich zugegebenerweise herzlich wenig Lust hätte, sie im Schweiße meines Angesichts fortzuführen. Es ist eine Lebensweise, die alle Welt als pittoresk empfindet, nur die Menschen nicht, die aktiv und auf Dauer daran teilhaben. Auch wenn es der Mehrzahl der Inselbewohner nicht bewußt ist, besitzen sie noch etwas, das ihre Kinder und Enkel an anderen Ecken er Welt bereits vielfach verloren haben - eine bäuerliche Einfachheit und frohgemute Lebenseinstellung, die dafür sorgen, daß kein Augenblick jemals peinlich und kein Fremder jemals unwillkommen ist. In diesem Buch gibt es vorwiegend Porträts zu sehen, und zwar aus dem Grund, weil es die Menschen Kitheras sind, um derentwillen ich Jahr für Jahr dorthin zurückkehre. Ihre Kinder sind längst weggezogen, in ihren Weinfässern gärt fremder Most, und das meiste von all dem, was sie geschaffen haben, um es nachfolgenden Generationen zu vererben, wird schlicht und einfach mit ihnen sterben. Und doch spielen Verzweiflung und Verbitterung nicht die Hauptrolle in ihrem Leben. Auf den Fotos in diesem Buch sind Menschen zu sehen, die mir mit ihrer Herzlichkeit und Unbeirrtheit immer aufs neue Mut machen, Menschen, in deren Antlitz ich das Spiegelbild der vergangenen hundert Jahre Inselgeschichte sehe.

Umschlag |
Vorwort | Tarzans Stiefel | Esels Leben | Koulas Kueche
Bei Stamatakos | Yanni Skavos | Foto Galerie |


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